Die unglaubliche Genauigkeit des Werfens
  jonglieren.at: Theorie & Praxis: Die unglaubliche Genauigkeit des Werfens

  Martin Apolin

  aus:
    Kaskade - Europäische Jonglierzeitschrift No. 42 (Sommer 1996), pp 18-19
    Tick. Die Zeitung von Artis-Tick, Nr. 3 (Sommer 1997), p 20 und Nr. 4 (Herbst 1997), p 16

         
Erfahrungsgemäß steigt die Erlernzeit mit zunehmender Ballzahl überproportional an. Die Dreiballkaskade ist schnell erlernt, vier Bälle sind schon etwas mühsamer, fünf Bälle eine wirklich harte Nuß.

Im folgenden Artikel wird mit Hilfe mechanischer Grundlagen erklärt, warum fünf Bälle so schwer zu jonglieren sind. Bitte höre nicht zu lesen auf, weil Du das Wort "mechanisch" gelesen hast und die Assoziationen mit dem Physikunterricht der Schulzeit nicht die besten sind. Die Physik kommt in diesem Artikel nur in homöopathischen Dosen vor, Formel keine einzige.

Falls Du Dich fragst, warum man etwas, was einem vielleicht sowieso intuitiv bewußt ist, auch noch begründen muß: Es ist manchmal sehr hilfreich (und auch tröstlich), wenn man auch das Warum weiß.

Die Wurfhöhe

 
Bei der Kaskade mit drei oder fünf Bällen entspricht der Weg der Bälle etwa einem liegenden Achter (Abb.1). Im strichliert gezeichneten Teil werden die Bälle getragen. Als günstige Wurfhöhe bei der Dreiballkaskade gilt für Anfänger Augen- bis Stirnhöhe, das sind etwa 50cm.

Abb. 1 Abb.1: Muster der Kaskade
Warum ergeben sich bei größerer Höhe - wie bei der Fünfballkaskade - mehr Probleme? Was passiert, wenn man höher wirft?

Die Geschwindigkeit, mit der die Bälle wieder in der Hand auftreffen, nimmt mit der Wurfhöhe zu. Bei einer Höhe von 50cm treffen die Bälle (bei senkrechtem Wurf) mit etwas mehr als 3m/s wieder auf die Hand auf, bei 70cm wären es schon 3.7m/s, also eine Steigerung von über 20%. Die Abhängigkeit der Geschwindigkeit von der Wurfhöhe ist in Abbildung 2 dargestellt.

Abb. 2 Abb.2: Zusammenhang von Wurfhöhe und Aufprallgeschwindigkeit

Der richtige Winkel

 
Zur größeren Aufprallgeschwindigkeit kommt jedoch noch ein weiterer, wesentlich unangenehmerer Effekt hinzu, nämlich die Auswirkung von ungenauen Würfen.

Angenommen ein Wurf ist dann "genau", wenn er mit einer horizontalen Abweichung von ±5cm in der anderen Hand ankommt (Abb.3). Mit welcher Winkelungenauigkeit darf der Ball dann abgeworfen werden?

Abb. 3 Abb.3: Auswirkung eines ungenauen Wurfes

Abb. 4 Abb.4: Zusammenhang zwischen Wurfhöhe und erlaubter Ungenauigkeit beim Abwurf

Mit zunehmender Höhe wird die erlaubte Winkelungenauigkeit kleiner (Abb.4), d.h. daß man präziser werfen muß. Es erstaunt, daß die Präzision des Winkels bei einer normalen Jonglierhöhe von etwa 50cm im Bereich von ±1.6% liegen muß, damit man mit der anderen Hand kaum oder gar nicht korrigieren muß.

Anhand des Diagramms sieht man auch die Schwierigkeit bei der Fünfball-Kaskade. Bei einer Wurfhöhe von 100cm darf die erlaubte Ungenauigkeit nämlich nur mehr im Bereich von ±0.8% liegen. Man muß also doppelt so genau werfen!

Abb. 5 Abb.5: Wie genau man für eine Abweichung von ±5cm werfen muß: links Dreiballkaskade, rechts Fünfballkaskade.

Die Handgeschwindigkeit

 
Um die Dynamik von Drei- und Fünfballkaskade sowie der Vierball-Fontäne genau abzuklären, wurden mit einer Hochgeschwindigkeitsvideokamera Jongliersequenzen mit 125 Bildern pro Sekunde aufgenommen und ausgewertet (zeitl. Abstand der Bilder daher 8/1000sec). Für die Handbewegungen ergaben sich dabei die in Abbildung 6 angeführten Durchschnittswerte.

Abb. 6 Abb.6: Zeitmerkmale der Hände bei Drei- bis Fünfballkaskade

Man erkennt, daß die Zeit für eine zyklische Handbewegung mit der Anzahl der Bälle abnimmt. Sowohl die Kontaktzeit als auch die Zeit für den Rückweg nach dem Abwurf bis zum neuen Fangpunkt sinken deutlich ab.

Bei fünf Bällen hat man daher mit folgenden Problemen zu kämpfen:

Größere Winkelgenauigkeit beim Abwurf ist notwendig: Man muß doppelt so genau werfen wie bei der Dreiball-Kaskade!

Die Kontaktzeit der Bälle mit der Hand verkürzt sich bei fünf Bällen gegenüber drei Bällen auf 2/3.

Die Hand muß pro Zyklus außerdem einen größeren Weg zurücklegen und mehr Korrekturarbeit leisten (siehe Abb.7).

Der Ball prallt mit größerer Geschwindigkeit auf die Hand.

Abb. 7 Abb.7: Größenvergleich der Bahnen der Hände bei mehreren Würfen bei Dreiballkaskade (links) und Fünfballkaskade (rechts). Die Markierungen zeigen die Position der Hand zu einem bestimmten Zeitpunkt. Man sieht, daß bei fünf Bällen der Weg und die Korrekturbewegungen größer sind.

Die Paradoxie

 
Aus dem eben Genannten ergibt sich nun eine paradoxe Situation: Man muß schneller und genauer sein. Diese Kombination macht jene Schwierigkeiten aus, die alle Jongleure kennen, die schon mit fünf Bällen (oder mehr) jongliert haben. Die Schwierigkeiten wachsen also überproportional an. Kein Wunder also, wenn man für fünf Bälle wohl mindestens ein Jahr des Übens in Kauf nehmen muß.

Die Emanzipation der linken Hand

 
Die ungeübtere Hand wird von dem eben Genannten natürlich stärker betroffen sein. Abbildung 8 zeigt Drei- und Fünfballkaskade im Größenvergleich nebeneinander. Die Abbildung ist aus Sicht des Jongleurs. Man sieht, daß die linke, ungeübte Hand wesentlich ungenauer wirft, was sich besonders bei der Fünfballkaskade auswirkt. Das spezielle Üben mit der linken Hand bekommt daher bei mehr als drei Bällen einen besonders hohen Stellenwert, um die linke Hand zu "emanzipieren".

Abb. 8 Abb.8: Vergleich zwischen Drei- und Fünfballkaskade. Es wurde jeweils ein voller Durchlauf ausgewertet, also sechs Würfe bei drei Bällen und zehn Würfe bei fünf Bällen. Zu beachten ist auch die ungleiche Wurfhöhe von linker und rechter Hand, die durch unterschiedliche Handbewegungen beim Tragen des Balles ausgeglichen wird.

Mehr ist weniger

 
Jeder Jongleur weiß aus Erfahrung, daß runde Bewegungen wesentlich weniger Kraft brauchen als eckige. Wird der Ball mit einer runden Bewegung abgefangen und wieder beschleunigt, so erhöht sich der vertikale Beschleunigungsweg (Abb.9).

Abb. 9 Abb.9: Durchgezogen ist die Bahn des Balles eingezeichnet, strichliert bzw. strich-punktiert der Weg der Hand während des Ballkontaktes. Je runder die Bewegung, desto größer der Beschleunigungsweg (strich-punktiert).

Je größer der Bogen, desto länger der vertikale Beschleunigungsweg und desto weniger Kraft wird pro Wurf benötigt, was wiederum einer frühzeitigen Ermüdung vorbeugen kann. Eine einfache Rechnung: doppelter Beschleunigungsweg - halber Krafteinsatz. Anders gesagt: Mehr Bogen ist weniger Kraft. Probier ganz einfach einmal, einen Ball aus der rechten Hand sehr hoch zu werfen und dabei nur 10cm auszuholen. Das ist unmöglich oder zumindestens sehr anstrengend.

Betrachte nochmals Abbildung 8, und Du siehst, daß bei der Fünfballkaskade der Weg der linken Hand kürzer und eckiger ist als der der rechten (bedenke, daß das Bild aus der Sicht des Jongleurs ist). Die Folge: Die konditionell schwächere linke Hand wird noch schneller ermüden. Solltest Du daher bei der Jonglage mit 4 oder 5 Bällen sehr schnell ermüden, so liegt es wahrscheinlich an den noch nicht so runden Bewegungen.

Literatur:
Martin Apolin; Vier und fünf Bälle jonglieren ist keine Kunst; Eigenverlag; Wien 1996



Martin Apolin (Wien) ist AHS-Lehrer für Sport und Physik und begeisterter Jongleur. Der obige Artikel stellt eine gekürzte und überarbeitete Version des Abschnitts "Kleine Biomechanik des Jonglierens" aus seinem Buch "Vier und fünf Bälle jonglieren ist keine Kunst" (pp 67-72) dar. In Tick erschien in er in zwei Teilen unter den Titeln: "Die unglaubliche Genauigkeit des Werfens oder Warum die Fünfballkaskade so schwer ist" bzw. "Die unglaubliche Geschwindigkeit der Hand oder Warum die Fünfballkaskade so schwer ist", in Kaskade unter ersterem Titel. Weitere Publikationen des Autors zum Thema Jonglieren: Das Lehrbuch "Jonglieren ist keine Kunst" sowie mehrere Artikel u.a. in den Zeitschriften Leibesübungen Leibeserziehung, Kaskade und Tick.
Weitere Artikel des Autors auf den Webseiten von jonglieren.at: siehe: Index: Apolin, Martin

Alle Rechte verbleiben beim Autor. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Kaskade - Europäische Jonglierzeitschrift und von Artis-Tick und mit Einverständnis des Autors. Oktober 2001.