Burlington, Vermont 1994
  jonglieren.at: Szene: Burlington, Vermont 1994

  Wolfgang Schebeczek

  aus:
    Kaskade - Europäische Jonglierzeitschrift No. 36 (Winter 1994), pp 10-13

         
9. August. Wir haben Montréal hinter uns gelassen und durchqueren Vermont in Richtung Süden. Wir, das sind Susi, ich und unser 8-jähriger Sohn Peter. Ziel: unsere erste IJA Convention. Burlington, der Veranstaltungssort, ist leicht zu finden. Aber dann verirren wir uns auf dem Campus. Auch nachdem wir ein kleines Hinweisschild gefunden haben und ihm folgen, sind wir noch unsicher. Keine Transparente, kein Zirkuszelt, kein einschlägiger Lärm, niemand jongliert. Sind wir hier richtig? Wir sind. Wir haben sogar das Patrick Gymnasium, in dem sich die Jonglierhalle befindet, im Blickfeld. Wir wissen es nur nicht.

In den folgenden Tagen gewöhnen wir uns an den - verglichen mit Europa - unauffälligeren Charakter der Convention. Alles wirkt hier gesetzter und nüchterner, es fehlt die Ausgelassenheit, das manchmal Überschäumende, die verrückten Typen, die Musik. Vielleicht liegt es am höheren Durchschnittsalter der Teilnehmer oder daran, daß Jonglieren hier weniger im Umfeld von Zirkus gedacht und praktiziert wird. Sicher trägt auch die Völker- und Kulturenmischung wesentlich zum bunten Charakter der europäischen Festivals bei. Hier gibt es nur wenige, die nicht aus Nordamerika kommen. Und, entgegen unseren Erwartungen, fast nur weiße Conventionteilnehmer.

Was uns auch abgeht: Marktbuden, Bars und Imbißstände, kurzum die sozialen Knotenpunkte, wo man sich treffen und zu einem Tratsch zurückziehen kann, die gemütlichen Winkel, wo man sich bei Bier oder Kaffee entspannen kann. Die "Parties" sind da kein wirklicher Ersatz. Die Mensa kann nur während der Hauptmahlzeiten aufgesucht werden, und auch nur, wenn man Vollpension gebucht hat. Ansonst beschränken sich die Möglichkeiten zur Nahrungsaufnahme auf dem Campus auf Getränkeautomaten. Ein Teil des Conventionlebens verlagert sich dementsprechend abends in Lokale in Downtown Burlington, wovon wir aber nur im nachhinein aus der Conventionzeitung erfahren.

Jonglieren, bis die Kühe heimkommen!

 
Das Motto der Convention spielt auf den ländlichen Charakter des US-Bundesstaates Vermont an. Wir haben zwar keine einzige Kuh gesehen, aber jede Menge schöne Landschaft. Hügelig, viele Wälder, mittendrin der langestreckte Lake Champlain. An ihm liegt Burlington, das kulturelle Zentrum Vermonts, mit wenig urbanem Charakter. Die Grünflächen der Universität werden aber trotz des herrlichen Wetters von den Jongleuren kaum genützt. Die Convention spielt sich - für uns unverständlicherweise - fast ausschließlich indoor ab. Es scheint, man hat hier in den U.S.A. zur Klimaanlage mehr Vertrauen als zum Klima.

Die Jonglierhalle ist nicht besonders heimelig, aber ausreichend groß für die 700 - 800 Teilnehmer. Hier ist immer viel los. Einradfahrer gibt es wenig, aber allerlei (für uns) Exotisches wie Jojo-Spieler und Lassoschwinger. Die Jonglier-"Götter" waren auf der Convention zwar rudelweise vertreten, in der Halle habe ich sie aber nicht erspäht; hier bleiben die Jongliersensationen aus. (Ausnahme: Bruce Sarafian, der an einem 10-Ball-flash arbeitet.) Geöffnet war die Halle rund um die Uhr. Offensichtlich haben die Veranstalter damit gerechnet, daß die Kühe erst spät heimkommen...

Teuer, aber gut

 
Will man an allen "Events" teilnehmen, muß man $ 155 auf den Tisch legen. Dazu kommen noch die Kosten für Übernachtung und Essen. Campingmöglichkeit am Festivalgelände gibt es nicht, aber Studentenheime. Auch sie sind nicht billig, und Vollpension ist obligat.

Aber man bekommt etwas für sein Geld. Die Organisation hinterläßt einen perfekten Eindruck. Pünktlichkeit wird groß geschrieben. Keine Warteschlange bei der Anmeldung. Viermal erscheint die Festivalzeitung "Maple Rag" und das Workshop-Programm mit detaillierten Angaben liegt bereits bei der Anmeldung gedruckt vor. Auffallend ist das große Angebot an "Beginning ..."- und "Basic ..."- Workshops. Neu für uns: die Workshopthemen Kreiselspiel, Jojo, Origami, Bumerang, sowie die informativen Workshops: "Akademisches Jonglieren", "Jonglieren und soziales Engagement", "Ideenaustausch für Straßenkünstler" usw.. Allen Leitern der Workshops, die wir besucht haben, können wir durchwegs professionelle Qualität bescheinigen.

Kampf um Medaillen

 
Der wohl wesentlichste Unterschied zur europäischen Convention: die Fülle an Wettkämpfen. Zumindest bei den Bühnen-, Numbers- und Joggling-Wettbewerben geht es um's Gewinnen. Aber auch bei den als "lighthearted" apostrophierten "Spielen" habe ich in den Augen einer Teilnehmerin bittere Tränen gesehen.

In den "Stage competitions" werden in den Kategorien Junioren, Senioren-Solo und Senioren-Teams Bühnennummern nach artistischen Kriterien bewertet. Inwieweit so etwas dem erklärten Ziel der "Förderung des professionellen Jonglierens" dienlich ist, darüber will ich mir hier kein Urteil anmaßen. Das Meinungsspektrum dazu ist jedenfalls auch in den U.S.A. breit gefächert. Es reicht von: "Ohne Wettbewerbe würde ich nicht weiter trainieren und meine Nummer würde sich nicht weiterentwickeln" (Benji Hill) bis zu Michael Moschen, der "absolut etwas gegen Wettbewerb" hat und deshalb den IJA Conventions jahrelang fernblieb. Auch das Problem, wie eigentlich verglichen und gemessen werden soll, läßt sich offensichtlich nicht leicht lösen: Vor drei Jahren hatte man ein neues Beurteilungssystem eingeführt, heuer wurde es wieder fallengelassen.

Andererseits...

 
Aber man muß einräumen: Zumindest für die Junioren dürften die Bühnenbewerbe ein gewaltiger Ansporn sein. In Burlington habe ich die Titulierung "Junior monsters" aufgeschnappt, das sagt wohl alles über deren hohes technisches Niveau. Und: Vom Standpunkt eines Festival-"Konsumenten" aus gesehen, bedeuten die "Stage competitions" neue, teilweise sogar aufregende Jongliernummern.

Gewissermaßen den Gegenpol zu den Bühnenwettkämpfen bilden die Renegade shows. Eine Mischung aus Public show, Kabarett und Schikursheimabend. Einsame Höhepunkte, gute Gags, aber auch unsäglich Mieses stehen hier nebeneinander. Es gibt keine Vorauswahl, keine Regeln, kein Vergleichen und Werten. Sogar Unmutsreaktionen aus dem Publikum sind verpönt.

Viel Sport, wenig Spiel

 
Numbers challenge (möglichst viele Objekte möglichst lang jonglieren) und Joggling (Jonglieren und Laufen) sind mehr oder weniger Sportbewerbe. Je nach Einstellung kann man dem etwas abgewinnen oder eben nicht. Ich bin jedenfalls ohne positive Erwartungen hingegangen, habe dann aber doch manches spannend gefunden. Und ich muß sagen: 10-Ring-Passing und Bounce-Passing mit 15 Bällen sind eine Augenweide. Wie auch immer: Numbers und Joggling haben kaum die Convention geprägt; zum Unterschied von den "Stage competitions" lockten diese Bewerbe nur relativ wenig Zuseher an.

Gestört hat uns, daß der Wettkampfgeist auch bei den "Games" überaus dominant ist. Da gibt es strenges Reglement, Zeiten werden gemessen und Punkte werden notiert. Sicher, Sieger und Verlierer gibt es auch bei den europäischen Spielen; aber der Akzent liegt bei uns auf dem spielerischen Element. Ein Beispiel: Beim "Diabolo high toss" in Burlington warfen die Diabolospieler einzeln, alle dasselbe Diabolo. Die Wurfzeiten wurden gestoppt und anschließend verglichen. Auf Hundertstel Sekunden. Das allein ist meines Erachtens schon angesichts der Ungenauigkeiten der Zeitnehmung Humbug, das ist aber nicht der Punkt. Die Bewertung ist sicher objektiver als beim gemeinsamen Hochwurf, aber der Wettbewerb dauert endlos lang, und das spielerisch-kämpferische des kollektiven Werfens geht total verloren. Ebenso das schöne, an ein Feuerwerk erinnernde Bild der vielen, gemeinsam hochfliegenden Diabolos. Und auch das chaotische Knäuel aus Menschen, Stöcken, Schnüren und Diabolos, in dem sich das Spiel unter Gelächter oft auflöst, wird durch den Austragungsmodus verhindert. Aus einem lustigen und lustvollen Kraft- und Geschicklichkeitsspiel ist ein steriler und langweiliger Leistungsvergleich geworden.

Cascade of Stars

 
Entschädigung für die enttäuschenden Spiele: die anschließend stattfindende "Cascade of Stars Juggling Revue", der Abschlußhöhepunkt der Convention mit einem Spitzenprogramm. Einige Namen seien herausgegriffen: Kosen Kagami, der Meister der japanischen Jongliertradition, ist allen, die in Hagen waren, ein Begriff. Peter Davison mit einer neuen Solonummer. Bestechend, was er alles aus der einfachen geometrische Form der Requisiten (zwei Stöcke, ein großer Ball, ein Reifen) herausholen kann; und das zu einer perfekten Choreografie. Avner the Eccentric, der Stargast der Convention, Clown, Pantomime, Zauberkünstler und Jongleur. Seine leise Komik geht direkt ins Herz, das Publikum ist hingerissen: Tosender Applaus, stehende Ovationen.

Man geht nicht verloren

 
Aber nicht Jongliersensationen und tolle Workshops waren für uns die positive Überraschung der IJA Convention. Vielmehr die ausgesprochen freundschaftliche Atmosphäre, die große Kontaktfreudigkeit der Teilnehmer. Vielleicht haben wir erwartet, daß die Wettbewerbe Ausdruck davon sind, daß Konkurrenz hier überhaupt das bestimmende Moment ist. Das Gegenteil ist der Fall. Konkurrenz, übertriebenen Ehrgeiz und Arroganz haben wir auf europäischen Conventions viel öfter angetroffen als hier. Ebenso, daß sich Teilnehmer in ihrer Clique oder Nationalität abkapseln. Ich habe den Eindruck, auf einer europäischen Convention kann man viel leichter verloren gehen. In Burlington gab es sogar einen Dave Finnigan-Workshop für Festival-Erstlinge, die sich "wie ein Kind am ersten Schultag fühlen ... schüchtern, überwältigt und verloren." Die Atmosphäre hat wohl für uns den Ausschlag gegeben: Wir haben vor, wieder zu kommen.

P.S.: Schöne Grüße von Peter an Buffo aus Pittsburgh, den stärksten Clown der Welt.



Wolfgang Schebeczek (Wien) ist Redakteur der europäischen Jonglierzeitschrift Kaskade und ist oft auf Jonglier-Conventions anzutreffen. Seit 1990 hat er nur zweimal die alljährlich stattfindende europäische Jonglierconvention geschwänzt. Beide Male, um an der IJA-Convention teilzunehmen.
Der Artikel wurde unter dem Titel "Made in U.S.A. Burlington, Vermont, 1994. Eindrücke von der anderen Convention" in Kaskade No. 36 veröffentlicht.
Weitere Artikel des Autors auf den Webseiten von jonglieren.at: siehe: Index: Schebeczek, Wolfgang
Weitere Informationen über die IJA-Festivals sind auf den Webseiten der International Jugglers Association (IJA) zu finden.
 
Alle Rechte verbleiben beim Autor. Veröffentlicht mit seinem Einverständnis und mit freundlicher Genehmigung von Kaskade - Europäische Jonglierzeitschrift. April 2002.