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Dienstag: Die erste Begegnung
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Es war für mich der erste Abend in Turin [1]. Nach der Parade. Es schüttete in Strömen. Katastrophenstimmung im großen Zirkuszelt. Alle fünf Minuten kommt jemand mit einem wasserdurchtränkten Schlafsack und sucht - vergeblich - ein trockenes Plätzchen. Das Zelt steht unter Wasser. Der Typ, dessen Beine ich aus dem linken Augenwinkel gerade noch sehen kann, erzählt jedem begeistert: "My tent - is in a river. Hahaha. My tent - is in a river. Hahaha." Antwortgemurmel. Doch da - eine Stimme. Eine neue Stimme. Ich verstehe die Worte kaum. Aber die Stimme ist hoch, sehr hoch, und doch eine männliche. Und da - ein Schuh. Ein ungewöhnlicher Schuh. Mit Sprungfedern dran. Die versinken im Gatsch. Im Zelt. Der Besitzer dieser Stimme und dieser Schuhe steckt in einem Hofnarrkostüm und ist gerade angekommen. Mit diesen Schuhen, mit dieser Stimme, mit diesem Kostüm, mit einer langen Gumminase, mit einem einkaufswagerlähnlichen Gefährt. Vor mir steht Rumpelstiltskin [2] (bitte in australian english aussprechen).
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Freitag: Die Open Stage
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Statt um neun oder zehn begann die Show um Mitternacht. Nicht alle hielten bis zum Ende durch. Nach unzähligen, manchmal endlos scheinenden Darbietungen war es schwer, sich aufrecht zu halten. Meine Nachbarn schliefen. Das Pärchen hinter mir wirkte noch gelassen, sie allerdings schien schon recht bleich. Ein weiterer Blick ins Publikum: Zombies mit aschfahlen Gesichtern, verquollenen Augenlidern, zerzaustem Haar. Wir gehen auf halb vier zu - und auf die letzte Nummer. Es ist Rumpel (bitte in australian english aussprechen). "Does anyone understand Australian English?" Niemand. Dennoch erzählt er uns, er sei ein Hofnarr ohne Schloß. Es berührt mich. Es ist traurig. Dabei ist er ein guter Hofnarr. Und er wird es beweisen. Er hat alle seine Spielsachen mitgebracht, und er räumt sie auf der Bühne aus, zeigt sie her, spielt damit: Drei Bälle in der rechten Hand, drei Gummischlangen in der rechten Hand, drei Quietschtiere in der rechten Hand - "on one spring - here we go!" Ja, es geht auch in der linken, und all das auf nur einer Schuhsprungfeder auf nur einem Bein und sogar am Einrad und - "oh, where is the microphone?". Er zieht an einem Kabel. Leider das falsche, das andere Mikrophon kracht runter. "Oh, I'm sorry". Ich könnte Stunden erzählen. Ich glaube, ich habe ein Genie gesehen. In kindlich-naiver, dem Publikum absolut alles spendender Gestalt.
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Anmerkungen der Redaktion jonglieren.at: | |||||
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Lisi Gräf (Wien, E-Mail: lisi [AT] diekeulquappen . at), Beruf nach eigener Angabe: u. a. "Keulquappe", was sowohl auf ihr bevorzugtes Jonglier-, Passing- und Swinging-Requisit hinweist als auch auf ihre Arbeit als Artistin im Duo Die Keulquappen. Mitarbeit in der Tick-Redaktion, Teilnahme an vielen österreichischen und internationalen Jonglier-Conventions, Stammgast bei der EJC.
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Markus Hoffmann (Wien) ist auf vielen Gebieten zu Hause: Er jongliert, zeichnet, schreibt und ist derzeit vor allem mit einer Theatertruppe (Theater Bahö!) unterwegs. Zuvor Mitglied der Jonglierensembles "Staunzeit" und "Die Pyromantiker".
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Weitere Beiträge auf den Webseiten von jonglieren.at: siehe: Index: Gräf, Lisi bzw. Index: Hoffmann, Markus
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Alle Rechte verbleiben bei Autorin bzw. Grafiker. Veröffentlicht mit deren Einverständnis und mit freundlicher Genehmigung von Artis-Tick. April 2002.
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