Rumpel
  jonglieren.at: Spielen...: ... für Publikum: Rumpel

  Lisi Gräf

  Markus Hoffmann: Grafik

  aus:
    Tick. Die Zeitung von Artis-Tick, Nr. 4 (Herbst 1997), p 10
         
Dienstag: Die erste Begegnung

 
Es war für mich der erste Abend in Turin [1]. Nach der Parade. Es schüttete in Strömen. Katastrophenstimmung im großen Zirkuszelt. Alle fünf Minuten kommt jemand mit einem wasserdurchtränkten Schlafsack und sucht - vergeblich - ein trockenes Plätzchen. Das Zelt steht unter Wasser. Der Typ, dessen Beine ich aus dem linken Augenwinkel gerade noch sehen kann, erzählt jedem begeistert: "My tent - is in a river. Hahaha. My tent - is in a river. Hahaha." Antwortgemurmel. Doch da - eine Stimme. Eine neue Stimme. Ich verstehe die Worte kaum. Aber die Stimme ist hoch, sehr hoch, und doch eine männliche. Und da - ein Schuh. Ein ungewöhnlicher Schuh. Mit Sprungfedern dran. Die versinken im Gatsch. Im Zelt. Der Besitzer dieser Stimme und dieser Schuhe steckt in einem Hofnarrkostüm und ist gerade angekommen. Mit diesen Schuhen, mit dieser Stimme, mit diesem Kostüm, mit einer langen Gumminase, mit einem einkaufswagerlähnlichen Gefährt. Vor mir steht Rumpelstiltskin [2] (bitte in australian english aussprechen).

Freitag: Die Open Stage

 
Statt um neun oder zehn begann die Show um Mitternacht. Nicht alle hielten bis zum Ende durch. Nach unzähligen, manchmal endlos scheinenden Darbietungen war es schwer, sich aufrecht zu halten. Meine Nachbarn schliefen. Das Pärchen hinter mir wirkte noch gelassen, sie allerdings schien schon recht bleich. Ein weiterer Blick ins Publikum: Zombies mit aschfahlen Gesichtern, verquollenen Augenlidern, zerzaustem Haar. Wir gehen auf halb vier zu - und auf die letzte Nummer. Es ist Rumpel (bitte in australian english aussprechen). "Does anyone understand Australian English?" Niemand. Dennoch erzählt er uns, er sei ein Hofnarr ohne Schloß. Es berührt mich. Es ist traurig. Dabei ist er ein guter Hofnarr. Und er wird es beweisen. Er hat alle seine Spielsachen mitgebracht, und er räumt sie auf der Bühne aus, zeigt sie her, spielt damit: Drei Bälle in der rechten Hand, drei Gummischlangen in der rechten Hand, drei Quietschtiere in der rechten Hand - "on one spring - here we go!" Ja, es geht auch in der linken, und all das auf nur einer Schuhsprungfeder auf nur einem Bein und sogar am Einrad und - "oh, where is the microphone?". Er zieht an einem Kabel. Leider das falsche, das andere Mikrophon kracht runter. "Oh, I'm sorry". Ich könnte Stunden erzählen. Ich glaube, ich habe ein Genie gesehen. In kindlich-naiver, dem Publikum absolut alles spendender Gestalt.

Samstag: Die Renegade Show

 
Das Zelt ist das Schloß. Haggis McLeod ist der König. Wir alle sind der Hof. Letzte Nummer. Es ist Viertel drei. Ein Blick ins Publikum: nur mehr Zombies, mit dem Teufel um den Schlaf ringend, großteils eingekifft. Alle warten. Es kommt Rumpel. Das Kind auf der Bühne, das alles gibt, das niemand der anwesenden Jongleure auch nur im Traum verkörpern könnte. Er ist wieder da, trotz Migräne, schlechter Kondition.

Der König fordert Unterhaltung. Der Hof applaudiert. Und Rumpel verläßt seine Rolle nicht, obwohl er mit seiner Kraft am Ende ist. Er kann nicht. Denn er spielt nicht. Er IST Rumpelstiltskin (bitte in australian english aussprechen). Drei Bälle in der linken, drei Bälle in der rechten, on one spring (Sprungfeder), am Einrad. Drei Gummischlangen in der rechten, drei Gummischlangen in der linken, on one spring, am Einrad. Drei Feuerbälle in der rechten, drei Feuerbälle in der linken... etc. etc. Er verliert seine Sachen. Er zerstört versehentlich die Stereoanlage. Er erzählt Anekdoten (keiner versteht australian english). Er zitiert sämtliche Titel aller Beatles-Platten. Er springt mit dem Einrad Feuerspringschnur. Er verheddert sich mit der Springschnur in der Sprungfeder seines Schuhs. Er stürzt pausenlos mörderisch vom Einrad. Er stopft sich alle seine Requisiten in sein Kostüm. Wenn er jetzt am Einrad hüpft, quietschen die Gummitiere aus der Hose. Er kann nicht mehr. Wir lieben ihn. Er befiehlt dem Publikum, zu gehen. Doch der Hof fordert Unterhaltung. Das Publikum besorgt ihm eine Gitarre. Er singt. Er kifft sich ein. Ich gehe. Als ich um halb sechs Uhr früh hinschaute, war Rumpelstiltskin noch im Zelt...

Rumpelstiltskin



Anmerkungen der Redaktion jonglieren.at:
[1] Die 20. Europäische Jonglier-Convention fand 1997 in Turin statt.
[2] Homepage: http://www.viveka.net.au/rumpelstiltskin/



Lisi Gräf (Wien, E-Mail: lisi [AT] diekeulquappen . at), Beruf nach eigener Angabe: u. a. "Keulquappe", was sowohl auf ihr bevorzugtes Jonglier-, Passing- und Swinging-Requisit hinweist als auch auf ihre Arbeit als Artistin im Duo Die Keulquappen. Mitarbeit in der Tick-Redaktion, Teilnahme an vielen österreichischen und internationalen Jonglier-Conventions, Stammgast bei der EJC.
Markus Hoffmann (Wien) ist auf vielen Gebieten zu Hause: Er jongliert, zeichnet, schreibt und ist derzeit vor allem mit einer Theatertruppe (Theater Bahö!) unterwegs. Zuvor Mitglied der Jonglierensembles "Staunzeit" und "Die Pyromantiker".
Weitere Beiträge auf den Webseiten von jonglieren.at: siehe: Index: Gräf, Lisi bzw. Index: Hoffmann, Markus

Alle Rechte verbleiben bei Autorin bzw. Grafiker. Veröffentlicht mit deren Einverständnis und mit freundlicher Genehmigung von Artis-Tick. April 2002.